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Gibt es generell zumutbare psychische Belastungen ohne den Schutz des Dienstunfallrechts?

Psychische Belastungen: Gibt es dienstliche Handlungen ohne Dienstunfallschutz?

Als "Körperschaden" im Sinne des Dienstunfallrechts kommen auch psychische Beeinträchtigungen in Betracht.
Hat der Unfall eine Schädigung der phyischen Integrität mit sich gebracht, ist also ein "echter" Körperschaden entstandten, dann liegt auf jeden Fall ein Dienstunfall vor.
Es gab in den letzten Jahrzehnten einen langsamen Wandel in den Vorstellungen vom Dienstunfall, so wie sich allgemein die Erkenntnis durchsetzte, dass nicht nur körperliche Gewalt verletzen kann. Man erkennt jetzt immer häufiger psychische Unfallfolgen auch dann an, wenn der Körper nicht verletzt wurde.

Bisweilen wird jedoch immer noch die Auffassung vertreten, bestimmte Belastungen müsse der Beamte ganz einfach aushalten, das gehöre zu Berufsbild. Im Falle eines Polizeivollzugsbeamten meinte der Dienstherr, die Aufnahme eines tödlichen Arbeitsunfalls könne nicht zu einer dienstunfallrechtlich relevanten psychischen Beeinträchtigung führen, eine solche "normale" Tätigkeit stehe grundsätzlich nicht unter dem Schutz der Dienstunfallfürsorge.
Diese Auffassung entspricht nicht der gesetzlichen Regelung.

In der folgenden Entscheidung klagt der Beamte auf Anerkennung eines Dienstunfalles, der Dienstherr ist der Beklagte.

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.04.20 - 4 S 3157/19 -

Leitsatz
„Typische" dienstliche Tätigkeiten eines Beamten sind nicht von vorneherein vom Dienstunfallschutz aus­genommen. Wird in deren Anschluss eine psychische Erkrankung geltend gemacht, stellt sich jedoch verschärft die Frage nach der Kausalität.

Tenor
Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 22.10.19 - 11 K 7064/17 - wird abgelehnt.

Gründe

1 Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten zu Recht verpflichtet, eine durch den Kläger erfolgte Unfallaufnahme  eines tödlichen Arbeitsunfalls auf einer Baustelle als Dienstunfall anzuerkennen.

2 1. a) ...

3 b) Der Beklagte führt aus, die Aufnahme eines tödlichen Arbeitsunfalls durch einen Polizeivollzugsbeamten sei ohne Hinzutreten weiterer Umstände, die den Rahmen der normalen Ausgestaltung des Dienstverhältnisses übersteigen, kein Vorkommnis, das zur Anerkennung eines Dienstunfalls führen könne. Es fehle im vorliegenden Fall an einer äußeren Einwirkung. Dabei seien die Dienstunfallvorschriften eng auszulegen. Für ein Eingreifen der Unfallfürsorge bestehe kein Anlass bei Vorgängen, die im Rahmen des Dienstverhältnisses üblich seien; derartige Vorkommnisse könnten den Dienstunfallbegriff von vorneherein nicht erfüllen. Dabei gehöre es zur Ausbildung und zum Beruf eines Polizeibeamten, sich auf derartige Belastungssituationen vorzubereiten, mit ihnen umzugehen, sie zu bewältigen und zu verarbeiten. Das Risiko, dass er bei einer solchen Belastungssituation eine psychische Gesundheitsverletzung davontrage, sei bei Ereignissen der vorliegenden Art primär seiner Sphäre zuzurechnen. Wolle man das Tatbestandsmerkmal des Dienstunfalls nicht völlig aushöhlen, müsse einschränkend gefordert werden, dass es sich um ein von der Dienstausübung abzugrenzendes Ereignis handeln müsse.

4 c) Aus dem Vorbringen ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils.

5 Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 LBeamtVG ist ein Dienstunfall ein auf äußerer Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist. Die Auffassung des Beklagten, es müsse sich um ein von der Dienstausübung abzugrenzendes Ereignis handeln, ist mit der Vorgabe „in Ausübung oder infolge des Dienstes“ nicht vereinbar. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht die gesetzlichen Voraussetzungen in Auswertung der vorliegenden ärztlichen Gutachten bejaht und insoweit bereits überzeugend ausgeführt, dass zwar das Bundesverwaltungsgericht einen im Rahmen des Üblichen bleibenden, sozialadäquaten Verlauf eines Dienstgesprächs nicht als äußere Einwirkung in obigem Sinne ansieht (BVerwG, Beschluss vom 11.10.18 - 2 B 3.18 -, Rn. 14 zu § 31 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG), dass aber die Unfallaufnahme - die mit dem Anblick des von einer aus mehreren Metern Höhe herabfallenden, 800 kg schweren Palette am Kopf getroffenen Opfers einherging - nicht als üblicher und selbstverständlicher Bagatellvorgang angesehen werden könne.

6 Soweit der Beklagte auf das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Schleswig-Holstein vom 26.11.1993 - 3 L 99/93 - verweist, lag diesem ein wesentlich anderer Sachverhalt zugrunde - dem Beamten wurde seine bevorstehende Ablösung als Leiter des Liegenschaftsamtes und seine Bestellung zum Leiter des Bauverwaltungsamtes mitgeteilt. Dies ist zwar mit dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Dienstgespräch vergleichbar; die Unfallaufnahme durch den Kläger hat demgegenüber aber eine gänzlich andere Qualität.

7 Die Auffassung des Beklagten, typische Ereignisse im Rahmen des Dienstverhältnisses von vorneherein vom Anwendungsbereich des Dienstunfallrechts auszunehmen - wobei er zu diesen typischen Ereignissen bei Polizisten im Einzelnen umschriebene „Leichensachen unterschiedlichster Art“ zählt -, findet im Gesetz und der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Stütze.
Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem genannten Beschluss ausdrücklich auf sein Urteil vom 09.04.1970 - II C 49.68 - verwiesen, in dem es die Beschimpfung eines Bahnpolizeibeamten im Wartesaal der Bahnhofsgaststätten als äußere Einwirkung im Sinne dies Dienstunfallrechts angesehen und die Sache nur deshalb an das Berufungsgericht zurückverwiesen hat, weil sich anhand der getroffenen Feststellungen nicht klären ließ, ob die Vorgänge Ursache des anschließenden Herztods des Beamten waren. Nach der Auffassung des Beklagten hätte auch der damals zu beurteilende Sachverhalt als typisch angesehen werden müssen, stand aber einer Anerkennung als Dienstunfall nicht von vorneherein entgegen.

8 Die Auffassung des Beklagten wird auch dem Sinn und Zweck der beamtenrechtlichen Dienstunfallfürsorge nicht gerecht. Dieser liegt in einem über die allgemeine Fürsorge hinausgehenden besonderen Schutz des Beamten bei Unfällen, die außerhalb seiner privaten Sphäre im Bereich der in der dienstlichen Sphäre liegenden Risiken eintreten, also in dem Gefahrenbereich, in dem der Beamte entscheidend aufgrund der Anforderungen des Dienstes tätig wird (BVerwG, Urteil vom 17.11.16 - 2 C 17.16 -, Rn. 14). Das Bundesverwaltungsgericht hat daher in diesem Urteil auch einen Unfall in einem Toilettenraum des Dienstgebäudes anerkannt. Der Senat hat die Anerkennung einer beim „Lehrersport“ erlittenen Verletzung eines Sportlehrers abgelehnt, weil es sich nicht um eine dienstliche Veranstaltung gehandelt habe, nicht aber, weil die Tätigkeit typisch war (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 10.12.18 - 4 S 1237/17 -). Des Weiteren stellt etwa § 45 Abs. 2 Satz 1 LBeamtVG dem Dienst das Zurücklegen des mit dem Dienst zusammenhängenden Wegs nach und von der Dienststelle gleich, währenddessen sich üblicherweise „typische“ Unfälle ereignen.

9 Ist ein Beamter auf die Bewältigung bestimmter belastender Situationen vorbereitet, mag dies für den Dienstherrn Anlass sein, deren Kausalität für eine im Anschluss geltend gemachte psychische Erkrankung besonders gründlich zu prüfen (weitergehend BVerwG, Urteil vom 12.12.19 - 2 A 1.19 -, Rn. 23: „Psychische Erkrankungen beruhen in aller Regel nicht auf einem plötzlichen, örtlich und zeitlich bestimmbaren Ereignis im Sinne des § 31 BeamtVG“). Von Gesetzes wegen von vorneherein ausgeschlossen ist die Anerkennung gleichwohl nicht. Dies liegt im Übrigen auf der Linie mit dem vom Beklagten angeführten Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 14.01.16 - Au 2 K 14.1585 -. Bei der in Bezug genommenen Passage (Juris Rn. 48) geht es um die Abgrenzung einer Ursache im Rechtssinne von einer sogenannten Gelegenheitsursache und die leichte Ansprechbarkeit der psychosomatischen Gesamtbeschwerdeproblematik. Das Gericht hat die Anerkennung des Ereignisses, das über ein im Streifendienst alltäglich vorkommendes nicht hinausgehe, hingegen nicht a priori ausgeschlossen. Dies gilt auch für das weitere vom Beklagten angeführten Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 28.04.16 - Au 2 K 15.1624 - (Juris Rn. 32 ff.), in dem die Einschränkung, wonach für ein Eingreifen der Unfallfürsorge kein Anlass bestehe „bei Vorgängen, die für das konkrete Dienstverhältnis ihrer Art nach üblich und selbstverständlich“ seien, im Übrigen nicht entscheidungserheblich war, weil es eine Sozialadäquanz gerade verneint hat. Die in diesem Urteil in Bezug genommenen Entscheidungen anderer Gerichte (Juris Rn. 33) betrafen, soweit es entscheidungserheblich war, ausschließlich dienstliche Gespräche oder die Einsicht in dienstliche Unterlagen.

10 Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils ergeben sich schließlich nicht aus dem Verweis des Beklagten auf das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes. Dieses hat in einem Nichtzulassungsbeschluss die Auffassung vertreten, an einer „äußeren Einwirkung“ fehle es „in Fällen, denen sozialadäquate bzw. diensttypische Vorgänge zugrunde liegen, denn für ein Eingreifen der Unfallfürsorge besteht kein Anlass bei Vorgängen, die für das konkrete Dienstverhältnis ihrer Art nach üblich und selbstverständlich sind“; wesentlich für das Vorliegen eines Dienstunfalls infolge psychischer Einwirkungen sei, „dass der geltend gemachte schädigende Vorgang seiner Art und Intensität nach den Rahmen des Üblichen und der sozialen Adäquanz überschritten hat“ (Saarl. OVG, Beschluss vom 24.06.19 - 1 A 235/18 -, Rn. 6). Das Oberverwaltungsgericht führt für seine auf das saarländische Landesrecht bezogenen Ausführungen - die sich auf einen wesentlich anderen Sachverhalt, nämlich den Anblick eines von Arbeitskollegen überwältigten Gefangenen (vgl. Rn. 8) bezogen - keine Verweise auf die Rechtsprechung anderer Gerichte an, wollte sich zu der des Bundesverwaltungsgerichts aber erkennbar nicht in Widerspruch setzen. Im Übrigen mag die vom Kläger durchgeführte Unfallaufnahme ein üblicher Vorgang gewesen sein, sie war nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts jedoch nicht sozialadäquat.

11 2. a) Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. ...

12 b) Der Beklagte wirft die Frage auf, ob „typische Ereignisse im Rahmen des Dienstverhältnisses eines Polizeivollzugsbeamten (wie zum Beispiel die Aufnahme von Arbeits- und Verkehrsunfällen mit schwer verletzten oder getöteten Personen, die Bearbeitung von Leichensachen unterschiedlichster Art) ohne Hinzutreten ganz außergewöhnlicher Umstände äußere Ereignisse im Sinne des Dienstunfallbegriffs“ sind.

13 Es kann offen bleiben, ob sich die vom Beklagten formulierte Frage in der Form überhaupt in einem Berufungsverfahren stellte, weil das Verwaltungsgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat, welche Ereignisse für einen Polizeivollzugsbeamten typisch sind. Vielmehr hat es die Unfallaufnahme nicht als „einen üblichen und selbstverständlichen Bagatellvorgang“ angesehen.

14 Unabhängig davon lässt sich nach Auffassung des Senats die vom Beklagten formulierte Frage auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dahingehend beantworten, dass das Gesetz „typische Ereignisse“ der dienstlichen Tätigkeit eines Beamten nicht von vorneherein von der Anerkennung als Dienstunfall ausnimmt. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.


Erhöhte Vulnerabilität

Der Beschluss steht vor dem Hintergrund einer breiter diskutierten juristischen Frage. Insbesondere im Schadensersatzrecht, aber auch im Strafrecht und Sozialrecht (OEG) ist bisweilen relevant, welche Bedeutung es hat, dass bei dem Geschädigten / dem Opfer eine erhöhte Vulnerabilität gegeben war, sei es aufgrund gesundheitlicher Vorschäden oder wegen einer besonders fragilen phyischen oder psychischen Konstitution. Sehr aufschlussreich dazu ist ein Aufsatz von Prof. Dr. Wagner, "Deliktshaftung für berufstypische Risiken", in NJW 2021, 897 ff.
Für Juristen ist das eine spannende Lektüre!

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